Die Kunst des Lesens im Mittelalter
Tempel des Wissens
Lesekulturen an den mittelalterlichen Universitäten
Lesekulturen an den mittelalterlichen Universitäten
Die Gründung und Entwicklung der Universität im europäischen Mittelalter hat einen besonderen Beitrag zur globalen Kultur und Geschichte geleistet. Frühere Klosterschulen waren der breiten Öffentlichkeit mehr oder minder verschlossen und vermittelten nur selten das gesamte Spektrum des menschlichen Wissens und Lernens. Die Universitäten hingegen waren viel offener und boten Bildung für eine größere Anzahl interessierter Menschen unterschiedlicher Herkunft.
Sie boten auch eine viel größere Auswahl an Studienrichtungen, einschließlich wissenschaftlicher Disziplinen. Das zeigt sich auch in der organisatorischen Struktur der Universität, die im Idealfall auch eine Fakultät der sogenannten Künste (lat. artes) sowie eine professionelle Komponente (die theologische Fakultät sowie die Fakultäten für Rechtswissenschaften und Medizin) umfasste. Diese soziale und kulturelle Offenheit und die allgemeine intellektuelle Weite jeder Universität spiegelte sich in ihrer Lesekultur wider, die sich nicht nur auf die Bildungseinrichtung selbst beschränkte, sondern auch Auswirkungen auf die lokale Gesellschaft besaß.
Die Universität blieb formal eine kirchliche Institution: Ihre Mitglieder stammten fast vollständig aus dem Klerus, ihre Kanzler waren oft wichtige lokale geistliche Führungspersönlichkeiten, Erzbischöfe oder Bischöfe. Dennoch wurde der Zugang für eine größere (wenn auch ausschließlich männliche) Öffentlichkeit etwas leichter. Daher beeinflusste jede Universität ganz selbstverständlich und stark die Stadt, in der sie sich befand, da ein erheblicher Teil der Stadtbevölkerung direkt oder indirekt mit der Universität in Verbindung stand.
Universitätslehrer waren angesehene Persönlichkeiten und hatten manchmal sogar eine Art Promi-Status. Die Studierenden der Universität beeinflussten das tägliche Leben der Städte: Poesie und Dramen der Studierenden wurden innerhalb und außerhalb des Universitätsgeländes aufgeführt und wurden auch in Handschriften mit Studientexten und Kommentaren niedergeschrieben.
Anders als heute verließen die meisten Studierenden ihre Universität vor dem Abschluss. In einer Gesellschaft, in der Diplome und akademische Grade weniger wichtig waren als heute, beendeten viele Studenten ihr Studium, nachdem sie die von ihnen gewünschten Fähigkeiten erworben hatten, und wurden als Stadtschreiber, Notare und oft als (juristische) Beamte bei den Gerichten beschäftigt. Folglich prägten sie auch die Entwicklung der professionellen und der alltäglichen Lese- und Schreibkulturen.
Die Universitäten bestanden in der Regel aus vier Fakultäten: Kunst, Recht, Medizin und Theologie. Die Künste (artes) galten als Voraussetzung, um Zugang zu den anderen drei Fakultäten zu erhalten. Die Einzeldisziplinen der artes-Kurse waren die sieben „freien Künste“: Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Nach drei Studienjahren wurde man zu einem Bachelor (baccalaureus artium). Nach sechs Jahren und nach Abschluss ihres Studiums wurden sie Meister (magister artium).
Studierende, die ihre Ausbildung weiter voranbringen wollten, konnten sich an einer der drei Fakultäten einschreiben. Die Rechtsfakultät umfasste sowohl das römische Recht als auch das kanonische Recht (Kirchenrecht). Seine Gelehrten verfassten auch Stellungnahmen zu aktuellen rechtlichen Fragen: Wie zum Beispiel das Traktat von Kuneš von Třebovel über mögliche heidnische Grundlagen bestimmter Grundsätze des Erbschaftsrechts für Bauern, das als Reaktion auf einen Konflikt verfasst wurde, an dem die Kirche von Kuneš beteiligt war. Die Medizin konzentrierte sich auf Werke klassischer Autoren wie Hippokrates, Galen und arabische Autoren wie Avicenna. Die Theologie galt als die höchste Fakultät. Die Bibel wurde studiert, zusammen mit ihren zahlreichen Kommentaren (wobei der von Petrus Lombardus der wichtigste war). Um einen Doktortitel in der Theologie zu erwerben, musste ein Student etwa zehn Jahre lang studieren: Das bedeutet, dass er insgesamt fast zwei Jahrzehnte an der Universität verbrachte.
Da sich einige Universitäten aus Kloster- und Domschulen entwickelt hatten, unterhielten sie spezielle Kollegs, die den Mitgliedern eines bestimmten Mönchsordens vorbehalten waren. Diese „Ordenshäuser“ waren in Mitteleuropa weit verbreitet: Die Universität von Prag hatte solche Häuser etwa für Dominikaner, Franziskaner, Zisterzienser und Augustiner. Hier wurde noch das allgemeine Studium angeboten, das an Kloster- und Domschulen gelehrt wurde. Gleichzeitig wurden sie aber auch stark von der intellektuellen Breite der an öffentlichen Universitäten gelehrten Fächer beeinflusst und diese von den Universitätslehrern durch eigene Schriften und wissenschaftliche Aktivitäten intensiv weiterentwickelt.
Der Fokus des allgemeinen Studiums der Mönchsorden lag ausschließlich auf der Theologie – aber im Sinne der mittelalterlichen Auffassung von Theologie als allumfassender Disziplin und Gipfel der menschlichen Erkenntnis. Das bedeutet, dass die Theologie zu jener Zeit auch Themen behandelte, die heute als meist nicht-theologisch betrachtet werden, wie Psychologie, Ethik, Wirtschaft, Politikwissenschaften, Soziologie usw. Solche Begegnungen und Auseinandersetzungen zwischen religiöser und säkularer Bildung, religiösen und weltlichen Themen und deren Vermischung führten zu einer dynamischen Entwicklung von Wissen und intellektuellen Auseinandersetzungen. Der intellektuelle Konflikt zwischen weltlichen und religiösen Ideen an den Universitäten war ein Spiegel des politischen Zusammenpralls säkularer und religiöser Kräfte in der Gesellschaft. Insbesondere die Frage, wem die höchste Autorität auf der Erde gehörte – dem Kaiser oder dem Papst? — wurde an den Universitäten heftig debattiert, mit vielen Befürwortern auf beiden Seiten.
So entstand als Folge der herausragenden Stellung der Universitäten in der Kultur des mittelalterlichen Europas allmähliche ein Spannungsverhältnis zwischen universellen und kosmopolitischen Macht- und Hierarchie-Idealen einerseits und territorialer, regionaler, lokaler und soziopolitischer Verankerung andererseits. Universitäten wurden so zu einem Schauplatz sowohl der internationalen, als auch der regionalen Kirchen- und Landespolitik. Dies manifestierte sich wiederholt in jährlichen quodlibet Disputationen: Debatten, in denen Studenten Fragen zu jedem Thema stellen konnten (quodlibet bedeutet „was auch immer“), die die Meister dann nach den wissenschaftlichen Gepflogenheiten diskutierten und beantworteten. An diesen Disputationen sollten sich alle Lehrer beteiligen, und sie spiegelten die oft widersprüchlichen Situationen wider. Vor allem während des Großen Schismas (1378-1417), als zunächst zwei und später drei Kandidaten die Papstkrone gleichzeitig für sich beanspruchten, spaltete sich Europa in der Frage darüber, welcher Kandidat zu unterstützen sei. Je nach religiösen und politischen Argumenten nahmen verschiedene Universitäten unterschiedliche Positionen ein. In Prag zum Beispiel votierten verschiedene Gruppierungen innerhalb der Universität für gegensätzliche Seiten. Während der König von Böhmen sich gegen den römischen Kandidaten Gregor XII. stellte, blieb die Mehrheit innerhalb der Universität ihm treu. Der Theologe Mauritius Rvačka schrieb sogar eine Abhandlung zur Verteidigung Gregors.
Diese Konflikte führten häufig zu Spaltungen der Universitätsangehörigen und zu Massenabwanderungen an andere Universitäten. Das führte nicht nur zu intellektueller Entwicklung, sondern auch zur Stärkung und Verbreitung ursprünglich eher lokaler Kontroversen und Konflikte. In diesem Zusammenhang strebten die Autoritäten zunehmend auch danach, akademisch ausgebildete Personen für administrative, rechtliche und finanzielle Aufgaben zu bestellen.
Die Universitätslehrer, von denen einige auch geistliche Würdenträger waren, und die Absolventen, die sowohl kirchliche als auch weltliche Funktionen bekleideten, waren so oft in der Doppelrolle von Intellektuellen und Praktikern, ohne die Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen und der professionellen Rolle zu spüren. Die Ideen und Ideale, die an den Universitäten entwickelt wurden, breiteten sich in andere soziale und intellektuelle Umgebungen aus.