Hafen mit Schiffen und Lastkähnen, mit Gebäuden im Hintergrund
Geschichte

Allgegenwärtige Jugend

Familiengeschichte vermischt sich mit persönlichen Erinnerungen in einer Erkundung dessen, was es bedeutet, in Europa jung und mobil zu sein

Im Mai-Juli 2024 nahmen dreizehn Teilnehmer an der zweiten Ausgabe der Online Creative Residency des Europeana Digital Storytelling Festival teil. Heather Storgaard entdeckte Vergleiche zwischen Familiengeschichte und persönlichen Erfahrungen.

von
Heather Storgaard

Zum Thema "Reise" arbeiteten die Teilnehmer mit Mentoren in den Bereichen Animation, soziale Medien, Collagekunst, Geschichtenerzählen mit 3D und kreatives Schreiben.

Zum Thema Jugend

Beim Ausräumen des Bauernhofs, wo mein Mann aufgewachsen ist, öffnete ich letztes Jahr ein zerbrechliches, blau-graues Album und erwartete Familienfotos zu finden. Stattdessen waren es erlesene, dicke Postkarten, die mir fast auf die Knie fielen. Ich fragte, was die sind, und mir wurde geantwortet, ich solle sie wegschmeißen - es gäbe viel zu viele Papiere, um alles aufzubewahren.

Ich verpacktehektisch, immer noch halb krank von einer winterlichen Lungenentzündung, und beschloss, dass ich sie später lesen wollte. So wurden sie in eine von fünfzehn Kisten geworfen, die mit schweren Papieren und Fotos, einer deutschen Schreibmaschine aus den 1930er Jahren, und einem verzierten Schreibkasten gefüllt waren und weiter mit Tartan Decken und norwegischen Strickwaren gepolstert. Dann von Jütland nach IJmuiden gefahren und über die Nordsee auf unserer vertrauten Route nach Schottland befördert wurden.

Ich habe sie mir erst diesen Sommer angeguckt, und damit die Zeugnisse einer zehnjährigen Reise durch Europa in der Zwischenkriegszeit entdeckt - eine Reihe von Postkarten, die in drei Sprachen geschrieben waren, die inzwischen alle ihre Rechtschreibregeln geändert haben. Sie gehörten dem Großvater meines Mannes, Anton, den ich nie kennengelernt habe und an den er sich auch nicht wirklich erinnert, aber mit dem ich anscheinend eine große Liebe zum Reisen und (zu meiner Freude) einen Geburtstag teile.

In der Schule und in Dokumentarfilmen wird uns beigebracht, dass das Leben in der Zwischenkriegszeit eine schwierige, dunkle Zeit der Putsche, des Wiederaufbaus und der Neuziehung von Grenzen war, friedlich oder nicht. Ich stellte mir vor, dass es eine düstere Zeit war, jung zu sein. Diese Sichtweise wurde verstärkt durch die Schwarz-Weiß-Fotos aus dieser Zeit - wie die, die ich auf Europeana.eu entdeckt habe.

Aber in diesen Familiendokumenten fand ich seitenweise wunderschön illustrierte Märchenstädte und verträumte Landschaften, die von mutigen, selbstbewussten, freundlichen, frühreifen jungen Menschen mit einem Entdeckerdrang durchquert wurden, der mich ansprach, als wären sie meinesgleichen. Sie waren Christliche Pfadfinder, eine Art Jugendorganisation, die in lutherischen Gemeinden in Deutschland und deren Nachbarländern beliebt war. Ich lasse mich von ihren Fahrten mitreißen, blinzle auf jedes mit Bleistift verschmierte Wort, um ihre Banalitäten zu übersetzen, und irgendwie bin ich trotz allem schockiert über ihren abrupten letzten Akt in den 1930er.

Mobilität der Jugend - der Wunsch, die Welt zu erkunden und seinen eigenen Platz in ihr zu finden. Unabhängig von der Generation ist dies ein allgegenwärtiger Teil des Erwachsenwerdens, von dem jeder glaubt, er gehöre ihm allein. Zwar wird jede Generation als egoistischer und weniger fähig als die vorherige bezeichnet, aber in Wirklichkeit begeben wir uns alle auf einem gut ausgetretenen Pfad, der sich mit jedem von uns verzweigt und verändert. Ob man mit Interrail oder dem Orient-Express reist, eine deutsche-evangelische Pilgerreise nach Palästina unternimmt oder als Freiwilliger in einem israelischen Kibbuz arbeitet - die Erfahrung des persönlichen Wachstums baut sich auf jeder Reise auf.

Ostpreußen, 1924, & Polen, 2019

Hafen mit Schiffen und Lastkähnen, mit Gebäuden im Hintergrund

Lieber Anton, Von unsere großen Ostreußenfahrt die herzlichste Grüße. Wir sind v. Marienburg und Danzig über Hohenstein (Tannenberg) Allenstein, Löben nach Königsburg gelaufen und haben hier heute die schöne Stadt besichtigt und den Hafen. Es geht uns nach Rossiten denn über Danzig nach Haus. Gut Pfad Deine Kollege Fritz, Hans

Das Tannenberg-Nationaldenkmal bei Hohenstein

Sind diese Ortsnamen dir bekannt? Keine der oben genannten deutschen Namen sind heute noch in Gebrauch. Für einige von ihnen gibt es slawische Entsprechungen - Rybatschi oder Рыбачий, Olsztynek, Malbork und Gdansk. Einmal das Juwel Preußens, eine Hafenstadt, deren Schönheit selbst Teenagern klar war, wurde Königsberg so sehr zerbombt, dass das heutige Kaliningrad nur noch wenig Ähnlichkeit mit seinem deutschen Vorgänger hat. Ich bekomme ein seltsames, melancholisches Kribbeln bei dieser Postkarte, die unwissentlich von einer Stadt verschickt wurde, die nur noch etwa zwanzig Jahre ihrer langen Existenz übrig hat. Ich versuche eine vollständige Übertragung in die moderne Geographie und stelle fest, dass ein ganzer Bezirk, Löben, einfach nie wieder aufgebaut wurde.

In einem der letzten Sommer der europäischen Freiheit, bevor die Briten das Recht verloren, frei in der EU zu leben und zu reisen, und bevor Covid das Reisen für alle zunichtemachte, besuchte ich viele dieser Städte. Nun, da sie mit neuen Namen und neuen Menschen aufgebaut wurden, suchte ich nach Anklängen der Vergangenheit, die aber für mich nicht zu finden waren. Gleichzeitig war dies eine Region, die nicht wusste, dass sie bald wieder von einem nahen Krieg erschüttert werden würde.

Flensburg, 1927 & Flensburg, 2024

Eine Straße mit begrünten, abfallenden Gärten und zwei Reihen von hohen Reihenhäusern

Liebe Eltern! Auf dem Weg hierher habe ich ein paar Stunden geschlafen, aber das war auch schon alles. Wir wohnen in der dänischen Schule – der Tivoli-Schule.

Schleswig Abstimmungsplakate in Flensburg

Ich fühle mich daheim an der Grenze. Dort, wo sich die Leute zwar über meinen Akzent wundern, aber kein Bedürfnis haben, sich aufzuregen, oder vielleicht Fragen stellen, aber nur aus reiner Neugier. Wurzeln habe ich in Flensburg nicht, aber hier darf ich ohne Konflikt sowohl Däne als auch Deutsche sein. Ich gehöre zu einer Mehrheit, die Verbindungen auf beiden Seiten der Grenze hat. Anfang dieser Woche bin ich an der Schule vorbeigegangen, die Anton besucht hat - sie steht immer noch da, am Rande des alten dänischen Friedhofs und mit Blick über den Hafen. Die dänische Minderheit in Deutschlands nördlichstem Bundesland, Schleswig, ist hier immer noch gegenwärtig.

Manchmal ist es für mich schwierig, ihr gebrochenes, aber eindringliches Dänisch zu verstehen. Aber ich höre auch gerne zu, und bekomme damit eine Bestätigung von mehrere Dänischheit-en, in der schönen Pluralform, die Dänemark sonst nicht so gerne akzeptiert.

Eckardtsheim, 1928 & Helgenæs, 2021

Gärten mit hohen Bäumen und offenem Tor, hinter dem sich zwei Häuser befinden.

Lieber Anton, Warum höre ich nichts mehr von Dir? Hast du alles Deutsch verlernt? Warst du dieses Jahr auch auf Fahrt?

Dies sind meine Lieblingssätze von allen Postkarten. Sie hätten genauso gut an meinen Mann geschrieben werden können - in einem unserer langen Corona-winter auf dem Bauernhof auf Helgenæs, als seine Abneigung gegen Social Media Nachrichten und die deutsche Sprache ihren Höhepunkt erreichte. Wie eingebildet sind wir zu glauben, dass Ghosting eine Erfindung der Internetzeit ist.

Die Orangen von Brindisi, von Triest bis zum Mandatsgebiet Palästina, 1931

Ein großes Schiff im Vordergrund, mit noch einem im Hintergrund

Wir nähern uns Brindisi in Süditalien, schon lange bevor sehen wir, wie sich die Wellen über die tosenden Piers brechen; schon im Hafen ist unsere Seekrankheit geheilt, es ist eben Tea Time, und jede Menge Weißbrot findet seinen Weg in die hungernden Bäuche. Es ist Zeit für eine kurze Landung, und schon hier bekommen wir den ersten Eindruck vom Süden: weiße und graue Häuser mit Flachdächern, enge Gassen und eine schmutzige Bevölkerung; aber die Orangen sind billig; Und zumindestens ist unsere Seekrankheit vorbei, doch kaum sind wir wieder auf der rauen See angekommen, bevor es sowohl innen - als auch außenbords von halbverdauten Orangen wimmelt.

Wo ist der Süden? Beginnt er mit der italienischen Grenze, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz feststeht, oder gehen die Länder irgendwann langsam in den Süden über? Unsere Sichtweise hängt von unserer eigenen Position, der internationalen Politik und unseren Befindlichkeiten ab. Brindisi ist südlich, aber vielleicht nur ein Eindruck davon, und nicht das Echte? Architektur ist wichtig, eine Reichlichkeit von Produkten vielleicht auch, aber es scheint, als ob die "schmutzigen Einwohner" die Verantwortung der Südlichkeit tragen.

München 1935-37, 2020-21

Aus Antons Zeit in München gibt es weder Briefe noch Postkarten. Seine Freunde, Deutsche, die er aus seiner Zeit in Jugendgruppen kannte, als sie Italien erkundeten, mit dem Rad durch Thüringens Literatur und religiöse Heiligtümer radelten und nach Palästina segelten, sind verschwunden. Handelt es sich um eine absichtliche Vernichtung von Aufzeichnungen, ein Schweigen nach zu langem Ghosting, oder ging die spätere Korrespondenz einfach bei Umzügen im Laufe der Jahrzehnte verloren? Wir werden es nie mit Sicherheit herausfinden, aber 1935 wurde seine Jugendorganisation die Christliche Pfadfinder verboten und die Kommunikation zwischen den Mitgliedern von der Gestapo überwacht.

Aus Antons München gibt es nur amtliche Dokumente und Hochschulzeugnisse, die mit dunklen, tintenfarbenen Hakenkreuzen gestempelt sind.

Wir haben zwar keine Postkarten, aber einen kleinen Umschlag mit seinen ersten Fotos, die einen Einblick in sein Vorkriegszeit München geben. Eine Stadt der Fakten und der Geschichte, in der keine Märchen zu finden sind. Eines zeigt die Ecke, wo sich die Sparkassenstraße und der berühmte Marienplatz treffen, mit marschierenden Nazis. Als mein Mann und ich in München lebten, saßen wir oft in der Sonne vor unserem Lieblingscafé, genau an der Stelle, an der er gestanden haben muss, um diese Aufnahme zu machen.

Unser München existierte in einer Zeit, die sich heute fast so weit entfernt anfühlt wie seine. Ein fremdes, unschuldiges Paradies vor dem Covid, Brexit, dem russischen Krieg in der Ukraine. Doch schaute seine Stadt immer noch durch - unsere Wohnung hatte einen Balkon mit Blick auf eine leere Brache, auf die Bomben gefallen waren und in all der Zeit nichts wieder aufgebaut worden war. Die Vermieterin war uralt, hatte als Kind in dem Gebäude gelebt und war sichtlich verärgert darüber, dass ein Brite in einem ursprünglichen, nie zerbombten Stockwerk des Gebäudes, komplett mit dem Vorkriegs Holzboden, wohnen durfte.

Europa, 2024

Wenn ich auf diese Reisen zurückblicke, denke ich an all die Zeiten, in denen diese Art von Freiheit nicht möglich war. Ich denke an Covid-Ausreiseerklärungen, Corono Tests, Einreisebestimmungen, Einreiseformulare. Im Extremfall erinnere ich mich daran, dass ich meine Heiratsurkunde mit mir herumtragen musste. Das Studium in München zu beenden und wegzugehen, ohne Rückkehrmöglichkeiten, zumindest in naher Zukunft - die hier zweimal passiert ist. Der Versuch, sich selbst, abstrakte Konzepte wie den Süden und Seebeine zu finden, auf einer Route, die jetzt selbst für die Verzweifeltsten völlig unmöglich ist - die Jugend wird diese Reisen immer als glückliche Selbstverständlichkeit betrachten.

Über den Autor

Wer bin ich?

Mein Name ist Heather Storgaard, ich bin Schriftstellerin und arbeite im internationalen Marketing. Nachdem ich viele Jahre in Dänemark, Deutschland, der Schweiz und Italien gelebt, gearbeitet und studiert habe, bin ich nun zurück in meinem Herkunftsland Schottland. An der Universität habe ich zunächst Kultur und Kulturerbe und dann literarische Übersetzung studiert und werde im September ein MLitt-Studium beginnen.

Worum geht es in meinem Projekt?

Mein Projekt befasst sich mit dem Thema der Jugendmobilität in Europa im vergangenen Jahrhundert. Das Projekt wird von einem Postkartenalbum inspiriert. Es gehörte dem Großvater meines Mannes, Anton, und ich habe es erst letztes Jahr gefunden. Anton war in der Zwischenkriegszeit als Teenager durch Europa gereist. Die Spuren, die er dabei hinterließ, ergaben ein Bild von jungen Menschen, die meiner Generation viel ähnlicher waren, als ich anfänglich erwartet hatte. Das hat mich neugierig darauf gemacht, wie jede Generation dazu neigt, sich für einzigartig zu halten, während wir in Wirklichkeit oft Wege erkunden, die für uns neu erscheinen, aber doch schon sehr ausgetreten sind.

Warum habe ich mich für die Online Creative Residency beworben?

Normalerweise arbeite ich als Schreiberin in der Whisky-Branche (was wahrscheinlich das Schottischste an mir ist!), daher sah ich diese Online Creative Residency als eine Möglichkeit, andere Themen zu erkunden und kreativer zu arbeiten. Das Thema "Reisen" hat mich sehr angesprochen, was mich dazu bewogen hat, mich zu bewerben.

Was habe ich von dem Programm?

Ich fand es toll, wie kollaborativ und unterstützend das Programm war. Viele von uns haben sich von ähnlichen Themen inspirieren lassen, obwohl unsere Ergebnisse sehr unterschiedlich waren.

Was werde ich als nächstes tun?

Im September werde ich ein MLitt-Studium beginnen und habe bereits mit der Recherche dafür begonnen, die im kommenden Jahr einen Großteil meiner Zeit in Anspruch nehmen wird. Ich hoffe, in Zukunft mehr über das Reisen zu schreiben und die grenz- und sprachübergreifenden Verbindungen in Europa weiter zu erforschen.