Einleitung
Der Bahnhof prägt als zentraler Ort der Fortbewegung nicht nur das gesellschaftliche Leben seiner Zeit: Hier wird der Wandel des zivilen Alltags zur völligen Ausrichtung auf den Krieg besonders deutlich. Denn das weit verzweigte Eisenbahnnetz ist wesentliches Element des Ersten Weltkrieges. Ob in der Bahnhofshalle, am Gleis oder im Zug ‒ stets sind Menschen anwesend, die sich im Übergang befinden: der Soldat, auf dem Weg an die Front, der Kriegsgefangene, abtransportiert ins Gefangenenlager und der Flüchtling, auf der Suche nach einer neuen Heimat. Der Bahnhof wird zum Knotenpunkt, zu einer Bühne, die alle bald wieder verlassen, um an einem anderen Ort neu aufzutreten.
Die Bahnhofshalle
„Weite Bögen, leere Räume, buntes Licht“ – die Bahnhofsgebäude sind die Kathedralen des industriellen Zeitalters. Die Architektur der lichtdurchfluteten Hallen mischt sich mit dem Schmutz und dem Krach der Dampflokomotiven, „halb Fabrik, halb Palast“ vereinen sie in sich eine repräsentative, der Stadt zugewandte prunkvolle Fassade mit einem funktionalen Teil, welcher „in die Ferne“ führt. Hier werden Fahrkarten gekauft, Fahrpläne studiert und Gepäck verladen; ein Ort des Konsums, des Kommens und Gehens, des Abschieds und Willkommens.
Mit Beginn des Krieges durchleben die monumentalen Hallen einen Wandel, den eine Zeitzeugin in ihren Erinnerungen von 1914 beschreibt: „[...] als wir nach Frankfurt kamen, war alles schon in Militär. Große Aufregung [...], die Koffer wurden nicht mehr befördert [...], unser Wagen wurde abgehängt, und wir standen zwei Stunden zwischen den Gleisen draußen vor Frankfurt.“
Zu Beginn des Krieges wird der Personenverkehr eingeschränkt, später ist Zivilpersonen sogar gänzlich der Zugang zum Bahnhof verboten. Mit Fortschreiten des Krieges verändern dessen Anforderungen auch das Aussehen des Bahnhofs selbst. Notdürftig werden Lazarette oder Küchen eingerichtet. Als Knotenpunkte der Infrastruktur von hoher strategischer Relevanz fallen die Bahnhofsgebäude nicht selten der Zerstörung zum Opfer. Neben der militärischen Notwendigkeit ist dies aufgrund der physischen Größe und Wichtigkeit der Bahnhöfe auch von starker symbolischer Bedeutung.
Am Gleis
Der Bahnsteig ist bereits in Friedenszeiten ein Ort, an dem die Menschen an der Schwelle stehen, um in einen anderen Zustand zu wechseln. Dies verdichtet die zunehmende Ausrichtung Europas auf den Krieg wie unter einem Brennglas. Am Gleis werden die ersten Soldaten während der großen Mobilmachung im August 1914 auf ihren Weg zur Front sowohl unter Jubel als auch unter Tränen verabschiedet. Ihr Weg führt sie von der Kaserne über den Bahnhof in die Stellungsgräben und wieder zur „Erholung“ in die Etappe. Als die ersten Kriegsflüchtlinge die Bahnhöfe betreten, werden sie dort, auf dem Gleis, erst als solche geboren: als Heimatlose, die durch den Verlust ihres Zuhauses zwischen Flucht und Rückkehr gefangen sind.
Die Übergangssituation ermöglicht auch neue Formen des Kontakts. Einfache Soldaten, meist Arbeiter oder Bauern, treffen auf die aus bildungsbürgerlichen Schichten stammenden Frauen vom Roten Kreuz, die Verwundete am Bahnhof in Empfang nehmen und versorgen. Die Dame aus der Stadt und der Vater eines Bauersohnes begegnen sich im Abschied. So stellt das Gleis eine Plattform dar, auf der nicht nur Zivilisten und Soldaten aufeinandertreffen, sondern auch Klassengrenzen für kurze Zeit an Bedeutung verlieren können.
Im Zug
Die Züge und das Schienennetz sind die Versorgungsstränge der gigantischen Kriegsmaschine. Auch aufgrund des erst spärlich ausgebauten Straßensystems und der ungenügenden Anzahl an Lastkraftwagen übernehmen sie eine tragende Rolle in der Kriegslogistik. Allein in den ersten drei Augustwochen nach Kriegsbeginn transportieren rund 31.900 Züge ca. 5,2 Millionen Soldaten an die Fronten. In die Gegenrichtung werden bald Verwundete und Kriegsgefangene fahren.
Auch die Wagen selbst durchlaufen eine grundlegende Transformation und werden elementare Bestandteile der Kriegsmaschinerie. Mit Panzern und Geschützen ausgestattet, können sie als Feldbahnen an der Front eingesetzt werden. Auch Küchen, Krankenstationen oder ein „Photographischer Kunst-Salon“ finden Platz in den Abteilen. Der Zug wird den Bedingungen des Kriegsalltags angepasst. Sie werden zu Arbeitsplätzen, Wohnstätten und Sterbelagern, zu Schauplätzen kleiner und großer Schicksale und verdichten die allumfassende Dimension des Ersten Weltkriegs.