Einleitung
Die Straße als ein zentraler Ort des zivilen Alltags und Mikrokosmos des politischen und gesellschaftlichen Lebens erfährt durch den Krieg einen enormen Wandel. Hier spiegelt sich die allgemeine Stimmungslage der Bevölkerung wider: Kriegsbegeisterung am Anfang, später vor allem Widerstand und Proteste gegen die Feldzüge und das Massensterben. Lange Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften prägen das Straßenbild und stehen sinnbildlich für die mangelhafte Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung. Auch militärisch ist die Straße ein wichtiger Ort: als Nachschubweg für die Truppen an der Front.
Veränderung des Straßenbildes
Die Straßenlandschaft der Städte beginnt seine Transformation mit dem Beginn des Krieges. Bereits während der Mobilisierung im August 1914 wird ein neuer Straßenrhythmus spürbar. Auf der lauten, belebten Straße, wo es klingelt und mechanisch rattert, wo die Marktfrau ihre Angebote anpreist, wird es still und sie verwandelt sich im Kriegsverlauf zu einem Ort des Raunens. So realisierte „The Times“ im August 1916 die „Calm London Evenings“, welche nicht zuletzt Resultat der behördlichen Verbote vor Ort zur Eindämmung der Lautstärke sind. Aufgrund der Gefahr von Fliegerangriffen ist die Straßenbeleuchtung eingeschränkt. Paris verwandelt sich somit von der „ville lumière“ zur „ville obscurité“. Die städtische Benzinunterversorgung führt außerdem zu einem geringen Verkehrsaufkommen, sodass zunehmend Fußgänger und Fahrradfahrer das Bild der Städte prägen. Durch Spionagegefahr sowie der Angst vor Aufruhr und Chaos sind öffentliche Versammlungen untersagt. Dies alles führt zu einem ruhigen und leeren Straßenleben.
Die kriegsbedingten Einschränkungen in der Informationsverbreitung durch Zeitungen verändert zudem die soziale Kommunikation der Menschen untereinander. Neuigkeiten in Politik und Alltag werden nun entweder verbal weitergegeben oder durch zahlreiche Plakate oder Flugblätter an Häuserwänden, Kasernenmauern, Laternen oder Strommästen verbreitet. Durch verkürzte Öffnungszeiten, Versammlungsverbote, Ausgangssperren und das Untersagen von lautem Amüsement auf den Straßen erfährt der städtische Alltag einen enormen Wandel, welcher die Ordnung des Krieges tief in die Stadt und das Leben einschreibt. Die Straße wird zu einer eigenen Kriegszone.
Begeisterung und Revolte
Bei Kriegsbeginn geht eine Welle der Begeisterung durch die Straßen Europas. Im Zuge patriotischer Kriegsbegeisterung werden Soldaten im August 1914 unter tosendem Jubel an die Front verabschiedet. Paraden und jubelnde Menschenmassen allerorts, in Paris werden die Metrostationen „Berlin“ und „Allemagne“ in „Liège“ und „Jaurès“ umbenannt. In den Hauptstädten der kriegsbeteiligten Länder bestimmen Fahnenmeere das Erscheinungsbild der Straßen. Mit wachsender Kriegsdauer mehren sich jedoch kritische Stimmen. Alsbald folgt die Ernüchterung. Der deutsche Historiker Karl Hampe erlebt den Stimmungswandel in Heidelberg und fragt sich im Juli 1916 in seinen Kriegstagebüchern: „Wo ist die Stimmung vom August 1914 geblieben?“ Auf die Ernüchterung folgt wiederum bald Wut: In Berlin protestieren Frauen und Kinder gegen Nahrungsmittelknappheit, in Paris und London kommt es zu Demonstrationen für den Frieden. Längst geht es bei den Kundgebungen auf den Straßen auch um Widerstand gegen das repressive Vorgehen des Staates und soziale Spannungen. In Russland wandelt sich der Protest gegen den Krieg schließlich zu einer offenen Revolution. Hier wird der Krieg auf der Straße beendet.
Die Straße als Kriegsschauplatz
Auf den Straßen Europas findet mit Kriegsbeginn eine Vermischung der zivilen mit der militärischen Welt statt. Straßensperren und Barrikaden werden vielerorts zum Bestandteil des alltäglichen Lebens. Männer in Uniformen prägen das Straßenbild, vor allem in den Hauptstädten der kriegsführenden Nationen. An Häuser- und Mauern kleben Flugblätter, die vor Spionage warnen, Männer auffordern, der Armee beizutreten, oder zu Spenden für die Truppen an der Front aufrufen. Während einige Städte wie Wien oder Berlin vom direkten Kriegseinfluss verschont bleiben, kommt es in den Hauptstädten Frankreichs und Großbritanniens zu Kämpfen zwischen Flugabwehrgeschützen auf der einen und Kampfflugzeugen und Luftschiffen auf der anderen Seite. Doch nicht nur Paris und London sind von Bombardements betroffen. In Städten, die im Frontverlauf liegen, zerstören Artillerieangriffe ganze Straßenzüge. Über die Straßen außerhalb der Städte werden Kriegsgefangene geführt, wandern Flüchtlinge in sichere Gebiete und Nachschubkolonnen rollen an die Front. Dies führt zum Teil zu logistischen Problemen. So heißt es in einer Mitteilung der deutschen 1. Kavallerie-Division im Zuge der Schlacht von Tannenberg im August 1914: „Bitte durch Zivilbehörden veranlaßte Landflucht unterbinden lassen, alle Straßen mit Fahrzeugen und Vieh überfüllt, ernste Gefahr für Bewegung von Truppen und Kol. bestehen; Verpflegung sehr erschwert.“